Sonntag, 12. Dezember 2010

Theater, Theater

Dass ich ins Theater komme, ist eigentlich ein seltenes Ereignis. Nicht, dass mich das Theater nicht interessieren würde, aber irgendwie ergibt es sich nur selten. Bis zu diesem Wochenende war es daher auch schon wieder eine Weile her.

Dieses Wochenende war ich dafür gleich zweimal bei den Brettern, die die Welt bedeuten (sollen).

Zuerst Freitag abends in der Linzer Tabakfabrik bei "Der Lechner Edi schaut ins Paradies". Dieses Stück ist eine Art Mischung aus den gesammelten Werken von Nestroy, dem "Kapital" von Karl Marx und "Terminator". Das klingt witzig und das ist es teilweise auch. Der Hintergund der Zeitreisegeschichte um die Titelfigur, seine Freundin und eine mit Persönlichkeit (aber ohne "Herz", wie sie immer wieder betont) ausgestattete ausrangierte Maschine aus der Schuhproduktion ist aber ein trauriger: Autor Jura Soyfer verfasste sein Werk im Jahre 1936, mitten im repressiven Ständestaat und drei Jahre nach Hitlers Machtergreifung in Deutschland. Soyfer war Marxist und demzufolge war sein Aktionsradius auf geheime Wiener Kellertheater beschränkt. Nur drei Jahre später war er tot, im Konzentrationslager Buchenwald dem Typhus erlegen. Da war er gerade siebenundzwanzig. Was aus diesem politischen Autor geworden wäre, wenn man ihn nicht so früh zu Tode gebracht hätte, lässt sich nur mutmaßen. Dem "Lechner Edi" merkt man die Jugendlichkeit seines Urhebers durchaus an, aber es ist schon ein Stück von beachtlicher Qualität. Soyfer wirbelt hier gekonnt Zeit und Raum durcheinander und schickt seinen Helden gemeinsam mit Freundin und Maschine in die Vergangenheit, wo sie die Wurzel ihres gegenwärtigen Elends - der Edi ist genauso wie die Maschine arbeitslos - auszumerzen gedenken, den menschlichen Fortschritt. Diese rückwärts gewandte Reaktion auf aktuelle Probleme stellt sich aber natürlich nicht als sehr tragfähig heraus. Der menschliche Fortschritts- und Entdeckerdrang lässt sich eben nicht aufhalten. Er lässt sich nur weise verwalten, was beim marxistisch geprägten Soyfer in letzter Konsequenz wohl bedeutet: durch ein Kollektiv von möglichst gleich Gestellten. Voraussetzung einer gerechten Gesellschaft ist aber - und das ist die Lehrbotschaft, mit der das Stück endet - dass wir alle gemeinsam die Verantwortung dafür tragen, wie mit den Ressourcen des menschlichen Fortschritts und der technologischen Entwicklung umgegangen wird. Der moderne Mensch muss erkennen: "Auf uns kommt es an!"

Der "Lechner Edi" ist mit seinen Science-Fiction- und fantastischen Elementen und seinen zeitlosen politischen wie geschichtsphilosophischen Fragestellungen ein sehr modernes Stück, auch wenn es erkennbar in der alten Wiener Theatertradition mit ihren Couplets, Strizzis und süßen Mädeln wurzelt. In dieser Brückenfunktion liegt ein faszinierender Aspekt dieses Werkes, das in der Linzer Tabakfabrik durch die Bühne04 sehr fokussiert und ohne unnötigen Ballast umgesetzt wurde. Bei den Schauspielern schien es mir zwischendurch vereinzelt leichte energiemäßige Durchhänger zu geben, die Performance steigerte sich aber zu einem guten Finale. Dem Finale folgte ein Publikumsgespräch, bei dem eher an einander vorbei geredet wurde. Ein Hauptdarsteller überzeugte jedoch vom Anfang bis zum Ende: die Tabakfabrik. Dieses ehemals von geschäftigen Arbeitern bevölkerte Gebäude ist nicht nur äusserlich eine Schönheit, sondern auch inwendig. Lang gezogene Gänge führen einen zum Aufführungsort, der großen Lösehalle (nach dem Ablösen der Tabakblätter benannt). Schon der Gang durch die Gänge und großen, leeren Hallen ehemaliger industrieller Produktion wird so auf eindrucksvolle Weise zum Teil der Inszenierung und verweist auf die Thematik des gegebenen Stückes.


Der Große Saal des Posthofes ist da als Spielstätte schon weit weniger beeindruckend als die Tabakfabrik (der eine weiter gehende kulturelle Nutzung sehr zu wünschen wäre), erfüllt aber seinen Zweck. Und im Falle der Compagnie Philippe Genty und ihrer "Voyageurs Immobiles" genannten Inszenierung sollte man seine Augen auch fest auf die Bühne gerichtet haben. Denn hier entfaltet sich ein interessanter Bühnenzauber, bei dem darstellerische Kunst, Illusionskunst, Musik, Tanz und ein sich ständig verwandelndes Bühnenbild ineinander greifen. Weil sich das herumgesprochen haben dürfte, war der Posthof Samstagabend sehr gut gefüllt. Der achtköpfigen Truppe gelang es auch tatsächlich das - sehr gesetzte - Publikum in ihren Bann zu ziehen.

"Voyageurs Immobiles" verbindet visuelle Effekte für jedermann mit dem künstlerischen Anspruch, surrealistische Traumbilder auf die Bühne zu bringen. Dabei werden bewusst nationale Grenzen überschritten, das Ensemble ist multikulturell, spricht in verschiedenen Sprachen und verwendet musikalische Einflüsse aus der gesamten Menschheit. Die Welt der Träume und die Kraft der Imagination sollen universell sein. Aber hinter der surrealen Ebene des Gezeigten stecken reale Themen: der Weg des Menschen durch sein Leben mit all seinen inneren und äußeren Kämpfen bildet einen erkennbaren Rahmen. Dazu werden auch die großen politischen Themen unserer Zeit behandelt, wie das Spekulationsunwesen an den Börsen oder Migration. Die gesamte Vorstellung dauert neunzig Minuten, was gerade die richtige Länge ist, wohl auch für die Darsteller, die unerhört akkurat und konzentriert arbeiten müssen, damit die Illusionen gelingen und das sehr ambitionierte visuelle Konzept aufgeht.




Zusammenfassend: Zwei Theaterabende, die das Potenzial von Theater abseits von Repertoire-Klassikern mit Darstellern in grauen Mänteln (die es vermutlich auch geben muss) sichtbar machen .

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