Mittwoch, 30. Juli 2014

Im Kino # 26: Richard Linklater - Boyhood

USA 2014

Das eigene Heranwachsen wie einen Film ansehen können, die wichtigsten Ereignisse zusammen gefasst auf einer konsumierbaren Zeitstrecke. Die Momente, die Gespräche und Entscheidungen heraus stellen, die Lebens verändernd waren, die den weiteren Verlauf der Dinge beeinflusst haben. Eine reizvolle Vorstellung, die sicher vielen schon gekommen ist und die von oberflächlichen Facebook-Timelines nie erfüllt werden wird, auch wenn sie das vorgaukeln möchten.

Für Ellar Coltrane muss es ein bisschen so gewesen sein, als er "Boyhood" das erste Mal zur Gänze gesehen hat. Zwar zeigt der Film von Richard Linklater nicht seine reale Kindheit, sondern seine Darbietungen in der Rolle des Mason, der Hauptfigur im Film. Aber "Boyhood" tut dies über eine Strecke von zwölf Jahren und wir sehen, wie sich Mason, immer gespielt von Ellar Coltrane, verändert, wie er sich entwickelt. Neben Coltrane war auch der restliche Kern-Cast des Streifens - Patricia Arquette (seine Mutter), Ethan Hawke (sein getrennt lebender Vater) und Lorelei Linklater (seine Schwester) - vom Anfang im Jahr 2002 bis zum Ende der Dreharbeiten 2014 mit dabei. "Ambitioniert" ist für dieses Projekt ein Hilfsausdruck.

Das Ergebnis ist eine 163-minütige Chronik von zwölf Jahren im Leben einer Gruppe von Menschen aus Texas: das Wiedersehen der Kinder mit ihrem aus Alaska zurück kehrenden Vater, die Versuche der Mutter, Glück in einer neuen Partnerschaft und Erfolg in einer neuen Ausbildung zu finden, der Umzug an einen neuen Ort, die sich langsam entwickelnden Zukunfts-Ambitionen von Mason. All diese Dinge, die für die handelnden Charaktere von größter Wichtigkeit sind, die aber für den außen stehenden Betrachter selten immens oder bedeutsam erscheinen.

"Boyhood" vermag es jedoch, trotz seiner einfachen, sich nahezu dokumentarisch anfühlenden Handlung, über die gesamte Spielzeit keine Längen aufkommen zu lassen. Linklater gelingt dies, indem er seine vielen kleinen Szenen knapp hält, zeitlich gut abstimmt und sicher auf den Punkt bringt. Seine Schauspieler helfen ihm dabei mit präzisen, unaufgeregten Darbietungen. Die Kurzweile im Unspektakulären, das ist das wirklich Bemerkenswerte an diesem Werk. Es steckt tatsächlich Leben in dieser "Boyhood" - im doppelten Sinn.

Und auch das von Richard Linklater, möchte man meinen. Die Kinder im Film erinnern an jüngere Alter Egos von Linklater. Wie er wachsen sie in Texas auf, die Mutter unterrichtet, die Kinder entwickeln künstlerische Neigungen. Da passt es das Samantha, die Schwester von Mason, gleich von der Tochter des Regisseurs gegeben wird (und Ellar Coltrane anfangs auch aussticht, aber der holt auf).  Der lone star state ist Hintergrund, ruhig und bieder, aber auch einengend, bedrückend - Menschen mit patriotischen Symbolen an der Haustür, mit Waffen im Schrank.

Da hilft es, wenn ab und zu einmal ein weiser Mensch ins Bild tritt und dem zweifelnden, suchenden Protagonisten den Weg weist. Der eigener Vater kann das sein oder ein Fotografie-Lehrer. In diesen Momenten, in denen Richard Linklater Erkenntnisse ausformuliert, gerät "Boyhood" freilich ein bisschen sehr ins Kalenderspruch-hafte. Allzu inszeniert wird hier auf den Punkt gehauen, allzu angestrengt die Lebensweisheit verbreitet. Das reibt sich, das verträgt sich nicht so sehr mit der schlichten, lebensnahen, fast dokumentarischen Atmosphäre des Filmes. In einer gewissen Weise gilt das auch für etwas, das eigentlich dazu angetan sein sollte, Gefühle der Vertrautheit zu evozieren: die Versatzstücke der Miniatur-Epochen der letzten zwölf Jahre, die der Streifen durchschreitet. Sie wirken zuweilen etwas zu ostentativ hineingesetzt in "Boyhood". Aber das ist wohl der Produktionsweise geschuldet - was einem heute relevant, was einem emblematisch erscheint, kann Jahre später in dieser Rolle befremdlich wirken.

"Boyhood" ist ein spannendes Experiment, ein Wagnis, das man als geglückt bezeichnen darf. Das hat er im Idealfall mit dem Leben gemein. Und er erlaubt auch allen, die die letzte Duodekade in einem kulturell nicht gänzlich anderes geprägte Weltgegend erlebt haben, ein wenig von der verflossenen Zeit, den Moden und Empfindungen nachzuvollziehen. Texas hin oder her. Wenn hier auch nicht alles passt, so fühlt sich doch vieles sehr wirklich an.

Meine Bewertung: 3.5 aus 5 Sternen

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