Dienstag, 8. Juli 2014

Brasilien 2014 # 6: Blick in die Glaskugel

Vier gewinnt. Also, einer von den Vieren zumindest. Das Halbfinale steht und wir fragen uns, ob das so weiter geht mit den zähen K.O.-Spielen, die zwar gegen Ende spannend werden, davor aber wenig fußballerische Schönheit offenbaren - außer vielleicht für jene, die das exakt getaktete, gleichförmige Verschieben von Mannschaftsformationen als Kunstform empfinden. Aber ich sage: Synchronschwimmen ist auch langweilig. Unerfreulich, dass das einzige Spiel, bei dem die Ordnungen nicht dominierten, bei dem es etwas wilder wurde, dann gleich zum Exzess mit Knochenbrecherfouls geriet. Was erwartet uns aber jetzt in den Semis?

Zum Glück überkommt mich alle zwei Jahre während der großen Fußball-Championaten eine seherische Gabe. Ich weiß dann ganz genau, wie es weiter geht. Leider überkommt mich die seherische Gabe aber immer erst nach Teilnahmeschluss für unser Büro-Tippspiel. Das muss ich monieren.

Aber nachdem ich mich jetzt über Facebook und Twitter noch mit diversen Umbanda-Priesterinnen aus Salvador de Bahia verbunden habe, weiß ich genau, was als nächstes passiert.


Brasilien - Deutschland, 8.7.2014

Vor dem Spiel schockt Jogi Löw die anwesenden deutschen Medienvertreter in einer überraschend angesetzten Pressekonferenz, indem er, gar nicht sehr tiefenentspannt wirkend, trotzig auf den Tisch haut und verkündet: "Ich bin hier der Teamchef, ich ganz allein!". Er erklärt den entsetzten Journalisten, dass er sich die Aufstellung nicht mehr diktieren lasse und daher beschlossen habe eine "etwas andere Variante, sehr flexibel" spielen zu lassen: Manuel Neuer beginnt in der Innenverteidigung ("also entweder ganz innen oder auch rechts oder links außen"), die Position des Torhüters übernimmt an seiner statt Philipp Lahm. "Der Manu freut sich total, dass er endlich vorne spielen darf,"erklärt Löw, "und der Philipp kann eh alles!".

Die Brasilianer beginnen in Belo Horizonte wie gewohnt mit zehn Fußballspielern und Fred als zentraler Attrappe im gegnerischen Strafraum. Auffällig ist, dass sie alle ganz in schwarz gekleidet antreten und Neymar-Perücken tragen, was bei den Deutschen für einige Verwirrung sorgt. Doch für die DFB-Elf kommt es noch ärger: Mario Götze, der von Jogi Löw ebenfalls in die Mannschaftsaufstellung nominiert wurde, bleibt in der Umkleidekabine hängen, weil er nicht aufhören kann, Selfies zu knipsen und auf Twitter und Facebook zu veröffentlichen.

Die zehn Brasilianer erwischen gegen die zehn Deutschen den besseren Start: In der 10. Minute schiebt Hulk den gesamten vor dem deutschen Tor versammelten Spielertross in Richtung Torlinie und irgend ein Spieler - vermutlich ein Innenverteidiger - wurschtelt den Ball über den heftig hüpfenden Philipp Lahm ins Tor. Die Gastgeber sind enthusiasmiert und drängen auf das 2:0. Der Selecao gelingen Ballstaffetten über mehr als zwei Stationen.  

In der 21. Minute entdeckt Ko-Trainer Hansi Flick, als er seinen Twitter-Account checkt, das neueste Selfie von Mario Götze (Kabinenpose Nr. 461 #PartOfGoetze #BRAGER) und schlussfolgert messerscharf, dass Mario Götze nicht im Spiel ist. André Schürrle wird eingewechselt. Mit einem Mann mehr drängen die Deutschen auf den Ausgleich. Kurz vor der Pause ist es so weit: einen Freistoß von Kroos verwertet Manuel Neuer per Kopf zum 1:1. Schockstille in ganz Brasilien. Auch die Tatsache, dass unmittelbar darauf die "Kiss Cam" der Stadionregie Joseph Blatter und Dilma Rouseff ins Bild nimmt, kann die Stimmung nicht wesentlich aufheitern.

In der 58. Minute erobert Manuel Neuer den Ball an der Mittellinie, wird am 16-Meter-Kreis gelegt, schießt den Freistoß und verlängert den Abpraller per Fußspitze zum 2:1 für Deutschland. In einem Krankenhaus irgendwo in Brasilien gelingt es einem Dutzend Pfleger in allerletzter Sekunde einen jungen Mann, der ebenfalls mit der Haartracht der brasilianischen Nationalmannschaft versehen ist, davon abzuhalten, mithilfe von zusammen geknüpften Bettlaken aus seinem Zimmer zu entkommen.

Die Selecao rennt verzweifelt an, die Gangart wird härter. Der Schiedsrichter hat diesmal die Gelben Karten sicherheitshalber gleich ganz zuhause gelassen. Als Marcelo in der 81. Minute plötzlich versucht, mit einem der brasilianischen Militärpolizei entliehenen Wasserwerfer die deutsche Abwehr weg zu spülen (es gelingt auch fast, nur Manuel Neuer bleibt stehen), erhält er eine Ermahnung, wonach er das nächste Mal streng ermahnt wird, dass er beim übernächsten Mal noch strenger ermahnt wird. Und, als der offenbar wieder topfitte Schweinsteiger mit eine Satz drei brasilianische Mittelfeldspieler nieder grätscht, erklärt ihm der Referee, dass das nicht sehr nett war.

Joseph Blatter freut sich über die gezeigte Konsequenz des Schiedsrichters so sehr, dass er Dilma Rousseff, die er immer noch neben wähnt, vor Freude umarmen möchte. Doch die hat das Stadion bereits verlassen, weil sie erfahren hat, dass ihr Amtssitz in Flammen steht. Und auf ihrem Platz sitzt jetzt Angela Merkel, die nicht so gerne umarmt werden möchte.

Von dem Eklat auf der Ehrentribüne bekommen die Spieler nichts mit, sie werfen ihre letzten Reserven in die Schlacht. In der 91. Minute erzielt der eingewechselte Miroslav Klose nach einer Ecke das 3:1 für die Deutschen. Alleiniger Torrekord. Auch das noch. Ronaldo muss von einer Hundertschaft Ordner daran gehindert werden, das Spielfeld zu entern.

Das Spiel ist aus. Hulk zerreißt vor Wut sein Trikot, Dante rezitiert fassungslos Verse, Oscar versteckt sich sogleich in der Eistonne und Fred steht bewegungslos in der untergehenden Sonne von Belo Horizonte.


Niederlande - Argentinien, 9.7.2014

In seinem versteckten Labor tief in den Eingeweiden des Corcovado von Rio sitzt Louis van Gaal an einer riesigen Orgel, deren Orgelpfeifenköpfe erstaunlich an die Gesichter der Spieler der Elf von 1978 erinnern. Johann Cruyff schaut sehr ernst. Van Gaal aber sinniert über seinem nächsten finster-genialen Plan, diesmal um Argentinien aus dem Weg zu räumen und das ersehnte WM-Finale gegen Deutschland zu erreichen.

Nachdem sein Geschöpf, der Penaltykiller "Krul", die Costa Ricaner aus dem Turnier geworfen hat, soll es nun "Krang" richten. Eine drei Meter große Kreatur mit orangener Haut, die darauf dressiert wurde, erstens Lionel Messi auf Schritt und Tritt zu verfolgen (was dessen hochnervöse Spielweise über weite Strecken der letzten Saison erklärt) und zweitens immer dann, wenn Robben zu straucheln beginnt, eine unterschwellige Botschaft an den Schiedsrichter auszusenden..Van Gaal liebt es, wenn ein Plan funktioniert.

Das tut er aber diesmal leider nicht. Weil Van Gaal ihm am Anfang des Spieles eine Umarmung verweigert hat (Van Gaal hat in seinem Leben mutmaßlich noch weniger Menschen umarmt als Angela Merkel), kocht in Krang, der eigentlich nur geliebt werden möchte, jetzt aber unglücklicherweise für die holländische Fußballnationalmannschaft spielt, die Wut hoch und immer höher. In der 30. Spielminute ist es soweit und Krang läuft Amok. Er packt alles, was er zu fassen bekommt und schleudert, kickt es durch die Gegend. Die FIFA-Torlinientechnologie zeigt mehrmals "Tor" an und die Menschen im Stadion jubeln frenetisch, aber es handelt sich nur um Sneijder, Kuyt und Garay.

In der 41. Minute erst kann das Wüten beendet werden, als sich ein kleiner Spatz auf die Schulter von Krang setzt und er in tiefe Melancholie verfällt. Diesen Augenblick nutzt Louis van Gaal, um Krang gegen Nigel de Jong auszutauschen, was freilich am grundsätzlichen Charakter des Spieles zunächst nicht allzu viel ändert.

In der 72. Minute macht Higuain irgendwie das 1:0 für Argentinien. Die durch den Krang-Zwischenfall verunsicherten sowie dezimierten Oranjes finden nicht mehr richtig ins Spiel zurück. In der 90. Minute setzt freilich Arjen Robben an der Strafraumgrenze  zu einem kühnen Dribbling an. Panikartig springen die Verteidiger der Albiceleste aus seiner Laufbahn, doch Robben hebt ab, zieht dreimal über das Stadion und verschwindet dann in Richtung Atlantik und der untergehenden Sonne. Wunderschön. Der Schiedsrichter pfeift ergriffen Elfmeter. Robin van Persie läuft an. Er ist aber von den Ereignissen des Tages dermaßen überwältigt, dass ihm die Tränen in seinen Augen die Sicht nehmen. So befördert er das Spielgerät in den Himmel von Sao Paulo, sodass Sergio Romero glücklicherweise wieder einmal nicht eingreifen muss.

Die Niederlande sind ausgeschieden, Argentinien im Finale.

Cambiasso und Zabaleta liegen sich glücklich in den Armen. Ihr fluffiges Haar bewegt sich traulich in der linden Abendbrise. Sie haben es Belgiens Fellaini nach dem Viertelfinale als Trophäe abgenommen. Argentiniens Coach Sabella muss freilich zu seinem Entsetzen feststellen, dass Lionel Messi spurlos verschwunden ist.

Ergreifende Szenen spielen sich hingegen in der holländischen Kabine ab. Van Gaal umarmt Krang mit den Worten "Ich bin dein Vater!" und verspricht ihm, ihn zu Manchester United mitzunehmen. Die englischen Fußballfans jubeln.

Arjen Robben taucht erst in der neuen Nelson Mandela-Biopic "Schwalben über Robben Island" wieder auf, wo er einen gewitzten Ausbruchskünstler spielt und endlich die ersehnte Anerkennung in Form eines Nebenrollen-Oscars erhält.



Tiefenentspannt!

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