Vor einem guten Jahr begann sich die Welt Nordafrikas und des Nahen Ostens radikal zu verändern. "Arabischer Frühling" nannten das die Medien.
Heute bahnen sich Entwicklungen ihren Weg, vor denen sich schon damals viele präventiv gefürchtet haben. In Tunesien und Ägypten hat der politische Islamismus, der jahrelang von den kleptokratischen Regimen nieder gehalten wurde, die Gunst der Stunde genützt und die ersten freien Parlamentswahlen für sich entschieden. In Ägypten erscheinen die 2011 so argwöhnisch beäugten, streng religiös orientierten Muslimbrüder und ihre Verbündeten (45,7%) nun fast wie ein moderates Bollwerk gegen die radikal-islamischen Salafisten der Al-Nour-Partei (27,8%), die das Land in eine Theokratie nach saudischem Vorbild führen wollen.
Auch das Libyen nach Ghadafis Sturz offenbart zunächst wenig Erfreuliches. Bewaffnete Milizen machen Sorgen, Anhänger des getöteten Diktators erobern Ortschaften zurück. Die ölreiche Nation ist von politischer Stabilität - so scheint es - weit entfernt. Die alten Eliten des Jemen haben sich zwar Salehs entledigt, machen aber sonst munter weiter, während im Süden des bettelarmen Landes dschihadistische Milizen auf dem Vormarsch sind. In Syrien wiederum tobt weiterhin ein blutiger innerer Konflikt und im benachbarten Iran sind die konservativen Vertreter des theokratischen Systems mit inneren Grabenkämpfen beschäftigt, was auch nicht gerade auf eine Stärke der gemäßigteren Opposition verweist.
Irgendwie macht uns das Angst. Ja, man könnte den Eindruck haben, dass das ein steiniger Weg wird, auf dem Weg zu Werten, die wir in Europa als absolut definieren, zu Rechten, die wir als unveräußerlich ansehen würden. Demokratie ist das eine, eine stabile Demokratie das andere. Menschenrechte, insbesondere Frauenrechte und die Rechte von Minderheiten stehen auf einem ganz anderen Blatt. Sind die arabischen Gesellschaften wirklich reif für eine "moderne" Demokratie, die die Menschenrechte achtet, einen säkularen Rechtsstaat? Vieles an diesen Gesellschaften macht uns aus unserer kulturellen Perspektive skeptisch: die Missachtung religiöser Minoritäten, familiäre Interessen, die über Gemeinwohl gestellt werden, die oftmals sehr patriarchal geprägten Strukturen, Religionsgelehrte, die von einer Trennung der geistlichen und weltlichen Sphäre nichts wissen wollen, eine sonderbare Verklärung der eigenen Geschichte, antisemitische Verschwörungstheorien, die weit verbreitet sind, archaisch anmutenden Nationalismen.
Aber, halt. Wie lange können wir uns eigentlich schon rühmen, diese Übel hinter uns gelassen zu haben? Wie lange leben wir schon in jenem Konzept von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, das wir solch kritischen Verdikten über andere Kulturkreise zu Grunde zu legen pflegen? 67 Jahre könnte man sagen, aber da sprechen wir nur von Teilen Europas. Vor 67 Jahren und vier Tagen gab es Auschwitz noch. Der Massenmörder Nationalsozialismus war aber nicht das letzte Unrechtsregime in Europa. Noch bis in die 70er Jahre führten in Ländern unseres Kontinents faschistische Diktatoren ein eisernes Regime, noch bis Anfang der 90er diktierte das selbst ernannte Proletariat. Selbst Frankreich, die postulierte Hüterin der Bürgerrechte, verübte noch in den 60er Jahren Gräueltaten an anti-kolonialistischen AlgerierInnen.
Auch wenn wir ein paar Jahrzehnte weiter zurück blicken, finden wir Zustände und Haltungen, die erstaunlich an das erinnern, was wir heute an islamischen Gesellschaften beunruhigend finden. Die Äußerungen von christlich-sozialen Politikern um 1900 - unterscheiden sie sich so sehr von den Positionen heutiger reaktionärer Muslime, wenn es etwa um Frauenrechte, das Judentum, religiös Andersgläubige oder die Trennung von Religion und Staat geht?
Hochmut verbietet sich. Unsere heutige Verfasstheit ist historisch gesehen sehr jung. 60 Jahre, das ist gar nichts. Nur weil wir am Weg zu bestimmten Werten eine erdgeschichtliche Millisekunde voran gegangen sind, ist unser Kultur noch lange nicht überlegen oder heilsbringend. Unsere eigene geschichtliche Entwicklung ist voll von schweren Exzessen gegen die Menschenwürde und gespickt mit Kriegen, für die allzu oft auch der Rest der Welt büßen musste. Abgehobenheit ist unangebracht. Und gefährlich.
Auch tut Differenziertheit not. Islamismus ist nicht gleich Islamismus, sondern eine ideengeschichtliches Phänomen mit unzähligen Seitensträngen und Unterteilungen. Natürlich gibt es ihn, den theokratisch orientierten, Andersdenkende verfolgenden, den militanten und gewaltbereiten Islamismus. Auf ihn gilt es zweifellos ein wachsames Auge zu haben. Aber es gibt auch so etwas wie einen muslimischen Konservativismus, den man oft, in Ermangelung von anderen Termini und in Abgrenzung zu den Nationalisten und Sozialisten, ebenfalls als Islamismus bezeichnet hat. Die türkische AKP steht für diese Schiene. So sehr man über den immer wieder kruden Populismus eines Erdogan die Nase rümpfen kann, eine echte islamistische Bedrohung sieht in ihm derzeit kein nüchtern denkender Mensch. Und in Punkto Grundrechte machen diese "Islamisten" ihre Sache nicht schlechter als ihre - allerdings diesbezüglich auch auf niedrigem Niveau agierenden - kemalistischen Vorgänger. Eher sogar besser. Vieles von dem, was sie vertreten, können, müssen wir kritisch sehen. Aber sie könnten zum Ausgangspunkt für die Entwicklung eines moderat-muslimischen Lagers werden, ohne das es in jenen Ländern realistischer Weise keine ausbalancierte Demokratie geben wird.
Anstatt nur über andere den Kopf zu schütteln, sollten wir freilich auch uns selbst anschauen. Und uns fragen, was wir selbst für "unsere" Ideale tun? Wir geloben den Kampf gegen "Terroristen" und all jene, die unsere Grundwerte bekämpfen wollen - und gießen seitenweise schwammige Polizeibefugnisse in unsere Kodizes. Wir betonen die Erhaltungswürdigkeit unserer Leitkulturen - und treten das Menschenrecht auf Asyl mit Füßen. Wir geloben Solidarität - und lassen Menschen in griechischen Flüchtlingslagern verkommen. Wir reden von Demokratie - und verheddern uns in einem Camouflage-demokratischen europäischen Gebilde, das an seiner zunehmenden Dysfunktionalität und seinen wachsenden inneren Widersprüchen zugrunde zu gehen droht. Wir gehen Achsel zuckend zur Tagesordnung über, wenn sich rechte Politiker mit Holocaust-Opfern vergleichen und warten auf dem Tag, an dem ihnen Christ- oder gar die bislang widerstrebenden Sozialdemokraten die Tür zum Kanzleramt aufsperren.
"Unsere größte Sünde ist die Hochmut", hat Vaclav Havel einmal dem Prager Parlament entgegen gehalten. Und wovor die kommt, kann als bekannt vorausgesetzt werden.
Dienstag, 31. Januar 2012
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