Das T-Shirt ist Khaki-Grün. In seiner Mitte prangt eine Darstellung, die an einen alten Druck erinnert. Da blickt man auf eine Skyline mit hohen Häusern, daneben eine Fabrik mit rauchenden Schloten. Darüber ein fliegendes Gebilde, halb altmodisches Propellerflugzeug, halb Grammophon. Wolken sind zu sehen, hinter den Wolken tauchen wieder Fabriksgebäude auf. Die Häuserfront scheint aus etwas hervorzuragen, das Nebel sein könnte. Oder ist es Wasser, eine Bucht? Klar zu erkennen ist: Auf den Gebäuden sind Lettern angebracht. "NEUTRAL" steht da, "MILK" und "HOTEL".
Das T-Shirt habe ich am Konzert von Neutral Milk Hotel in der Wiener Arena erworben. Zusammen mit "On Avery Island", dem Debütalbum der Band, das zugleich deren bislang vorletztes ist.
"Kennst du diese Band?" Diese Frage stelle ich in diesen Tagen im Zusammenhang mit meinem Konzerterlebnis häufiger. Und sie wird eigentlich stets verneint, selbst von sehr Musik interessierten Menschen in meinem Bekanntenkreis. Bei Neutral Milk Hotel klafft doch eine Lücke zwischen jener Bedeutung, die ihnen Popmusik-Schatzgräber beimessen und ihrer Breitenwirkung, vor allem hier in Europa.
Das wird auch darin liegen, dass ihre Alben zunächst keine großen Kassenschlager waren, weder besagtes "On Avery Island" noch der Zweitling, "In The Aeroplane Over The Sea". "In The Aeroplane Over The Sea" mutierte allerdings zum Longseller, erwarb sich den Ruf eines Kultalbums, beeinflusste eine ganze nachkommende Generation von Musikern, und ist - ganz offen gesagt - wirklich und wahrhaftig großartig. 1998 erschienen, ist es ein Meisterwerks des Übergangs, vom Grunge-, aber auch Lo-Fi-beeinflussten alternativen Rock der Neunziger hinüber zum vielschichtig-weltgängigen, klingenden Indie Rock der Nullerjahre. Nur, dass das jetzt niemand falsch versteht, da ist nichts Unfertiges, da ist Vollendung. So sehr womöglich, dass auf den spannenden Rohentwurf "On Avery Island" bloß noch dieses "In The Aeroplane Over The Sea" folgte und dann bis dato nichts mehr.
Aber jetzt touren sie wieder. Und haben Amen Dunes als Vorband mit im Gepäck. Die haben sich in der Arena ganz dem Neunziger Jahre-Motto ergeben, tragen umgedrehte Baseball-Kappen, löchrige Jeans. Bei alle dem Slacker- und dem nachdenklich-verhuschten, pyschedelischen Songwritertum mit kaum verstehbarer Singstimme erstaunt es dann doch, wie entspannt und guter Dinge die drei Mann von Amen Dunes gleichzeitig wirken. Sie spielen ein gar nicht so kurzes, konzentriertes Set, sehr solide, aber auch nicht berauschend. Es ist noch Luft in alle Richtungen, auch in der Halle, die noch eher locker besetzt ist.
Das ändert sich in jenem Moment, in dem Neutral Milk Hotel auf der Bühne stehen. Wenn sich die Fans der Kultband versammeln, die solange gewartet haben, dann wird die Arena doch voll. Und sie bekommen gleich etwas zu sehen: Jeff Mangum, Leadsänger und Mastermind der ursprünglich aus Louisiana stammenden Truppe hat sich einen Vollbart zugelegt. Er wird aber diesbezüglich vom Blechblasspezialisten Scott Spillane abgehängt, dessen mächtiger Rauschebart ihn zum sofortigen Eintritt bei ZZ Top berechtigen würde (wenn ZZ Top Verwendung für Blechbläser hätten). Drummer Jeremy Barnes trägt Schnauzbart, aber das Zentrum der Inszenierung bildet doch Julian Koster, der mit einem sternförmigen, roten Barett am Haupt und seiner enthusiastischen, hyperaktiven Performance, welche auch ungezählte Schwindel erregende Umdrehungen beinhaltet, Rumpelstilzchen-artig die Blicke auf sich zieht. Hinzu kommt ein weiterer Instrumentalist, der sich, offenbar neu hinzugetreten, vergleichsweise unauffällig am Rande mit einfügt.
Überhaupt: "Instrumentalist" ist die treffende Bezeichnung für die meisten Akteure hier. Neutral Milk Hotel bauen ihren famosen Bandklang aus einer Vielzahl verschiedener Klangkörper zusammen, die auch stetig durchgewechselt werden. Die einzige echte Konstante ist dabei eigentlich Jeff Mangum, der im vertrauten Tonfall singt und gelegentlich gelassen seine Gitarre tauscht. Alle anderen können ihre Vielseitigkeit zwischen Saiten-, Blas- und sonstigen Instrumenten beweisen, wobei Julian Koster wieder den meisten Spaß haben darf: Akkordeon, singende Säge, Banjo, Synthesizer unterliegen seiner Verantwortung.
Die Band legt ohne Umschweife druckvoll, fast ein wenig hastig, los. "King of Carrot Flowers, Pt. I" eröffnet den Abend, sehr bald hören wir auch "Holland, 1945". Beim Stück "In The Aeroplane Over The Sea" erkenne ich, dass es sich bei den sonderbaren, scharrenden Klängen, die es auch auf der gleichnamigen Platte zeitweise untermalen, offenbar nicht um ein Theremin oder sonstigen Schnickschnack handelt, sondern schlicht um die singende Säge.
Der Auftritt folgt nicht der klassischen Dramaturgie vieler Konzerte, die bekannten Nummern des zweiten Albums werden teilweise schon recht früh eingestreut. Sie blitzen auf, verglühen wieder und schon geht es weiter mit den im Kopf weniger präsenten (aber live umso eindrucksvolleren) Nummern des übrigen Oeuvres sowie mit dem immerwährenden Wechselspiel der Instrumentierungen und Klangmischungen. Manchmal freilich würde man die besonderen Augenblicke gerne ein bisschen länger festhalten.
Der Gesamtklang ist für Arena-Hallen-Verhältnisse von hervorragender Güte (es hilft aber auch, dass wir uns Amen Dunes gegeben und Plätze in einer vorderen Reihe gesichert haben). Zwischendurch (zB bei "Two-Headed Boy, Pt. I") tritt der Rest der Gruppe auch einmal einen Schritt zurück und lässt Jeff Mangum den Vortrag in Folksänger-Manier mehr oder minder alleine gestalten.
Dafür, dass dieser Abend durchgängig kurzweilig bleibt, sorgt freilich schon die vielschichtige Qualität des vorgetragenen Materials, das musikalisch souverän gegeben wird. Und das Wichtigste ist ja ohnehin das: Neutral Milk Hotel sind wieder da. Das fliegende Grammophon ist wieder in der Luft und es ist eingeschaltet. Wohin es sich wendet, werden wir sehen - und vor allem hören.
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