Sonntag, 29. Dezember 2019

Rückblog 2019: Meine bestgehörten Alben des Jahres, Platz 5 (geteilt)

05 (geteilt mit Mahalia) Rafael Puyana - Pièces de clavecin (Couperin Le Grand)
     Philips Classics Productions, 1989

Manchmal enthüllt ein genauerer Blick auf den "Beipackzettel" einer CD/ LP (gibt es eigentlich irgendeine deutsche Entsprechung für die englischsprachigen "liner notes"?) einen historischen Kontext einer Aufnahme, der ihr ein eigenes Flair verschafft.

Der kolumbianische Cembalo-Meister Rafael Puyana spielt hier. Unter seinen Händen erklingen diverse "Pièces de clavecin" des französischen Barockkomponisten François Couperin, genannt "Couperin Le Grand". Puyana tut dies in den ehrwürdigen Hallen des Pariser Konservatoriums, genauer gesagt in dessen Instrumentenmuseum. Und es ist Sommer 1968, genauer gesagt Juli 1968. Man kann sich vorstellen, dass die Aufnahmen vielleicht mehrfach verschoben werden mussten. Denn noch wenige Wochen vorher war Paris, war Frankreich im Aufruhr. Im "Pariser Mai" wurden Barrikaden errichtet, Universitäten und andere Gebäude besetzt und traten hunderttausende, ja letztlich Millionen Menschen in den Streik. Die Protestbewegung richtete sich gegen die als verknöchert empfundene Langzeit-Herrschaft des konservativen Präsidenten De Gaulle. 

Es hat seinen Reiz sich vorzustellen, wie die besonderes Atmosphäre dieses Sommers auf die Interpretation gewirkt haben mag. War es eine gewisse Entspannung, das diese Ausnahmesituation eben vorüber gegangen war, die das ganz und gar inspiriert wirkende, flink-filigrane Spiel Puyanas leitete? Oder steckte ihm doch Anspannung, Ärger, vielleicht Wut in den Fingern, wie er diese Musik spielte, die ein Hofkomponist eines anderen mächtigen Franzosen - Ludwig XIV. - zur Erbauung seines absolutistischen Fürsten geschrieben hat? Eine Musik, die Puyana nun auf einem Instrument wiedergab, das mutmaßlich die Revolutionäre von 1789 beschlagnahmt und dem Konservatorium übergeben hatten. So viel französische Geschichte (und Gegenwart) in einer Aufnahme. 

Und da ist dann noch diese Cembalo-Musik aus dem Jahrhundert des Sonnenkönigs, die einem so fremd, so wunderlich entgegen tritt. Couperins raffinierte und detailverliebte Kompositionen und das Spiel des Cembalisten kreieren in Verbindung mit den eigentümlichen Beschränkungen des alten Tasteninstruments (Tonumfang, Dynamik) eine ganz eigene Klangwelt. Wir erleben ein melodisch-harmonisches Dahingleiten in hellen Farben, das aber zugleich für heutige Ohren durchaus perkussiv daher kommt. Dazu liefert uns Couperin auch nicht die aus dem Barock vertrauten Formen höfischer Tänze. Es sind vielmehr kleine musikalische Poeme, die ein Ding, einen Zustand oder - das am häufigsten - einen Menschen oder eine Gruppe von Menschen in allen charakterlichen Besonderheiten und Sonderbarkeiten zu beschreiben suchen. Aber, paradox: gerade das so an den Klang der Zeit gebundene, zugleich nicht konventionelle Element dieser höfischen Unterhaltungsmusik lässt sie mir auch wieder modern erscheinen. Jedenfalls ganz und gar nicht verknöchert.


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  Danke an Alex P.!