Donnerstag, 21. Oktober 2010

Kronzeuge gegen die Todesstrafe

Siebzehn Jahre, acht Monate und einen Tag - solange saß Juan Roberto Melendez in einem sehr speziellen Trakt eines Gefängnisses in Florida. Bis kurz vor Ende dieses langen Zeitraumes war er der Überzeugung, dass man ihn hinrichten würde. Wäre er nicht in Florida in der Todeszelle gelandet, sondern in einem jener US-Bundesstaaten, in denen vom Urteilsspruch bis zur Hinrichtung weniger Zeit vergeht, so wäre er zu diesem Zeitpunkt vermutlich schon tot gewesen. Und wahrscheinlich hätte niemals irgendjemand erfahren, dass er unschuldig war.

Heute reist Juan Melendez durch die Lande und berichtet von dem, was ihm widerfahren ist. Letzte Woche befand er sich gemeinsam mit seiner Begleitung, der Strafverteidigerin Judi Caruso, auf Einladung von Amnesty International in Österreich. Das Referat für Gesellschaftspolitik der Johannes Kepler-Universität Linz hat diese Gelegenheit ergriffen und ihn zu einer eigenen Veranstaltung am letzen Donnerstag auf der Kepler-Uni eingeladen. Und das ebenso mit Recht wie mit Erfolg: Hundertzwanzig Menschen sind gekommen, um Melendez zu erleben und sie erlebten einen leidenschaftlichen und lebendigen Vortrag, bei dem auch der Humor nicht zu kurz kam. "Ich mag es, wenn die Leute lachen", sagt Melendez.

Dabei ist die Geschichte, die er erzählt, eigentlich eine tieftraurige. 1984 war es, als ihn ein persönlicher Feind und Polizeiinformant mit dem Mord am Besitzer eines Schönheitssalones in Verbindung brachte. Obwohl es keinerlei Sachbeweise für diese Behauptung gab, wurde Juan Melendez, der dem Prozess mangels Englischkenntnissen praktisch nicht folgen konnte, zum Tode verurteilt. Zeugenaussagen, wonach der wirkliche Täter die Bluttat zugegeben hatte, wurde vom Gericht kein Glauben geschenkt.

In seinem Vortrag berichtete Melendez davon, wie er sich danach fühlte, im Todestrakt. Er erzählte, wie Wut und Hass von ihm Besitz ergriffen, wie er schließlich beschloss, sich das Leben nehmen, wie so viele andere, die in seiner Situation waren. Doch ein herrlicher Traum von seiner Kindheit auf Puerto Rico brachte ihn dazu, seinen Entschluss zu überdenken. Seitdem war er davon überzeugt, dass der Himmel noch etwas mit ihm vorhatte.

Anstatt sich das Leben zu nehmen, begann der Inhaftierte, die englische Sprache zu lernen, er lernte richtig zu lesen und zu schreiben. Er schloss innige Freundschaften mit seinen Mitinsassen und holte sich betend Kraft. Juan Melendez fasste neuen Mut, wenngleich die Bedingungen in der Haft hart waren, wo Ratten in den Zelle lebten und den Todeskandidaten nur eine mangelhafte medizinische Versorgung gewährt wurde.

Mit neuem Mut und neuen Sprachkenntnissen ausgestattet, versuchte er nun, sein Schicksal wieder in die eigenen Hände zu bekommen. Entscheidend dafür, dass dies schließlich gelang, war eine neue Anwältin, die in den Akten ihres Vorgängers ein Tonband fand, das erstaunlicher Weise das Geständnis des Mörders von 1984 enthielt. Das Verfahren gegen Juan Melendez wurde neu aufgerollt, neue Beweismittel tauchten auf, die ihn entlasteten, zugleich den wahren Täter überführten.

Nach siebzehn Jahren, acht Monaten und einem Tag wurde Melendez aus der Haft entlassen. Was er draußen vorfand, war eine Welt, die sich stark verändert hatte ("als ich ins Gefängnis kam, hörten wir noch Audiokassetten" sagt er). Und er hatte einen Mission: die Welt davon zu überzeugen, dass die Todesstrafe Unrecht ist, auch wenn sie in menschlichen Gesetzen stehen mag. Vom Staat Florida, der ihn mehr als siebzehn Jahr unschuldig dem Tode geweiht hatte, erhielt er nahezu keine Starthilfe in seine neue Existenz: 100 Dollar und etwas Kleidung, das war alles.

Juan Melendez ist kein Einzelfall. Er ist bereits die neunundneunzigste Person, die seit der Widereinführung der Todesstrafe in den Vereinigten Staaten im Jahre 1973 aus der Todeszelle entlassen wurde, weil sich ihre Unschuld herausgestellt hat. Irren ist menschlich, aber die Todesstrafe ist es nicht: wo es die Todesstrafe gibt, sterben nahezu zwangsläufig Unschuldige. Und kein Gericht der Welt kann einen Hingerichteten wieder zum Leben erwecken. Die Todesstrafe ist endgültig. Doch auch, wenn es keine Unschuldigen trifft, ist die Todesstrafe wegen ihres grausamen Charakters als unmenschlich zutiefst abzulehnen. Sie hat zudem keine abschreckende Wirkung.

Im Fall der USA kommt noch hinzu, dass Rassismus im fatalen System der Todesstrafe eine wesentliche Rolle spielt. Angehörige von Minderheiten, denen man vorwirft, Weiße getötet zu haben, werden statistisch gesehen weitaus häufiger zum Tode verurteilt als andere Täter. Das Urteil fällen dabei oft Jurys, in denen überproportional viele Weiße sitzen. Denn nur, wer der Todesstrafe grundsätzlich bejahend gegenübersteht, kann nach der inneren Logik der Strafgesetze Mitglied einer solchen Jury werden - und das sind häufig Weiße, die - auch das ist durch wissenschaftliche Untersuchungen untermauert - aufgrund einer ausgeprägten "Law&Order"-Gesinnung dazu tendieren, Entlastendes beiseite zu schieben.

Ich habe die Freude gehabt, Juan und seine Begleiterin Judi (der wir unter anderem die eben wiedergegeben, spannenden Ausführungen zur Rassismus-Problematik verdanken) während ihres Aufenthaltes in Linz kennen lernen zu dürfen. Ich war begeistert vom positiven, aber doch zutiefst ernsthaften Auftreten der beiden, von ihrem tiefen Engagement und von Juans Sinn für Humor. Ich wünsche Juan, dass sich sein größter Traum erfüllt und er noch den Tag erleben wird, an dem unmenschliche Praxis der Todesstrafe von dieser Erde verschwunden ist. Juan Melendez ist mein Kronzeuge gegen die Todesstrafe.

Juan steht nicht alleine. Wer will kann seine Sache unterstützen - zum Beispiel HIER.

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