Sonntag, 17. Oktober 2010

Nachkriegs-Theologie

Wenn man in Österreich unterwegs ist, kann man zuweilen an alten Mauern Denkwürdiges entdecken. Zum Beispiel an einem der historischen Stadttürme von Vöcklabruck.




Mir ist die Entstehungsgeschichte dieser Darstellung nicht bekannt, aber wie mir scheint, haben wir es hier mit einem Ausdruck typisch österreichischer Nachkriegs-Theologie zu tun. Ein gekreuzigter Christus ist hier zu sehen. Zu seiner Rechten befinden sich zwei bemitleidenswerten Frauen, eine davon mit einem (etwas überdimensionierten) Säugling im Arm, es handelt sich hier offensichtlich um Opfer des Hungers oder der Bomben. Zur Linken des Kreuzes stehen zwei andächtig dreinblickende Männer, einer jung, einer alt. Sie sind bewaffnet und tragen jeweils die Uniform der Wehrmacht. Die Inschrift darunter lautet: "Wir starben für dich, uns traf der Lanzenstich, gleich ihm, der an dem Kreuze verblich. Gotte wolle den Frieden erhalten, den wir mit dem Tode bezahlten".

Es wirkt für heutige Augen durchaus befremdlich, dass hier das Schicksal von Soldaten der deutschen Wehrmacht mit jenem von Jesus gleich gesetzt wird. Letzterer wurde bekanntlich Opfer eines Justizmordes. Er starb dem christlichen Glaubensbekenntnis zufolge, um der Welt das Heil zu bringen. Die Soldaten des Dritten Reiches hingegen wurden ausgesandt, um der Welt das Unheil zu bringen. Unter ihren Stiefeln wurde Europa zu einem blutigen Trümmerhaufen, Millionen Menschen, darunter auch Millionen Zivilpersonen, mussten den Vormarsch der deutschen Armee mit dem Leben bezahlen. Richtig ungustiös kann einem die Darstellung erscheinen, wenn man sich vor Augen hält, wen die Christen Jahrtausende lang für den Tod ihres Erlösers verantwortlich gemacht haben. Man könnte in dem Gemälde somit sogar eine ziemlich perfide Verdrehung der Täter-Opfer-Rolle erblicken.

Aber über solche Deutungsmöglichkeiten wird sich der unbekannte Künstler vermutlich überhaupt keine Gedanken gemacht haben. Unmittelbar nach dem Krieg war auch im Hausruckviertel vieles zerstört, die Menschen hatten ihre Brüder, Väter, Söhne im Krieg verloren, es herrschte Not und Ungewissheit über die Zukunft. Flüchtlinge aus den deutschsprachigen Gebieten des Ostens, die alles verloren hatten, kamen hier an. Auf die Frage nach dem "Warum?" konnte die Kirche den Menschen schwerlich sagen, dass ihre Brüder, Väter, Söhne einer Clique von Wahnsinnigen an die Macht verholfen hatten, die, auf einer Basis von zweitausend Jahren christlichem Antisemitismus agierend, das Volk in einen alles zermalmenden Krieg geworfen hatte. Man griff daher zu einem sehr katholischen Ansatz und erklärte den Menschen, dass ihre Leiden im Rahmen eines göttlichen Plans der Erlangung des Friedens dienten.

Das Problematische an dieser Vorgehensweise liegt auf der Hand, blendet sie doch die eigene Verantwortlichkeit für das Geschehene sowie historische Kausalzusammenhänge vollständig aus. Man kann sie aber den damals Verantwortlichen nicht wirklich ankreiden, die doch sehr unmittelbar mit Verzweiflung und Not konfrontiert waren und Wege suchten, den Menschen wieder Lebensmut zu vermitteln. Zu einem wirklichen Problem wurde, dass die Auseinandersetzung mit den historischen Realitäten noch lange Zeit nicht wirklich stattfand, sondern in einem katholisch-österreichischen Opfermythos Zuflucht gesucht wurde. Auch dafür legt die künstlerisch nicht ansprechende Darstellung auf dem alten Vöcklabrucker Stadtturm sehr beredtes Zeugnis ab - immerhin hat sie es bis in die heutige Zeit geschafft. Und selbiges gilt möglicherweise auch für den österreichischen Opfermythos, der in ihr zwar vielleicht nicht unmittelbar zum Ausdruck kommt, aber doch angelegt ist.

Und das kann, wenn wir sehr viel Pech haben, eines Tages wieder eine Clique von Wahnsinnigen für sich nutzbar machen.

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