Mittwoch, 13. August 2008

Selbstanzeige

"Letzte Woche habe ich eine Straftat begangen!" sagte Herr W. zu mir.
"Wirklich?" gab ich zurück. "Was hast du denn gemacht?!"
"Das war so", antwortete Herr W., "ich war in einer öffentlichen Bibliothek. Ich hatte einen Rucksack dabei und der Mann am Informationstisch machte mich freundlich darauf aufmerksam, dass ich diesen nicht mit hineinnehmen dürfe, sondern ihn in einem Spind zu verstauen hätte. Ich ging also zurück zu den Spinden und machte mich auf die Suche nach einem offenen, unbenützten. Ich sah, dass Nr. 200 offen stand. Ich finde, 200 ist eine schöne Zahl, also beschloss ich diesen Spind zu nehmen."
"Soweit, so gut. Und das Verbrechen?"
"Warte, gleich passierts! Also, wie ich die metallene Spindtür aufmache, stelle ich fest, dass der vorherige Benützer die zwei Euro Einsatz vergessen hat! Ich überlege also jetzt, was ich tun soll, nehme dann aber die Münze einfach an mich und verwende sie für das Wegsperren meines eigenen Rucksackes!"
"Na gut. Sich etwas unerlaubter Weise auszuborgen ist noch keine Straftat. Außer es handelt sich um ein Kraftfahrzeug, aber.."
"Ja, mag sein! Aber dabei habe ich es nicht belassen, sondern ich habe meinen Fund nach meiner Rückkehr aus der Bibliothek einfach mitgenommen und behalten!"
"Das wäre jetzt freilich schon als strafbare Fundunterschlagung zu werten. Wenn auch in eher sehr geringfügigem Ausmaß.."
"Stimmt!" meinte Herr W. "Aber, weißt du was, ich habe trotzdem richtig gehandelt!"
"Wieso das?"
"Nun, wenn ich die zwei Euro nicht mitgenommen hätte, hätte das bestimmt der Nächste getan, oder der Übernächste, oder?"
"Bestimmt. Aber deswegen wäre es ja immer noch Unrecht.."
"Richtig. Aber es gilt hier natürlich auch noch zu bedenken, dass es extrem unwahrscheinlich schien, dass der wahre Eigentümer noch einmal zurückkommt, um sein Geld wiederzuholen. Schließlich war davon auszugehen, dass er den Verlust gar nicht bemerkt hat. Und selbst wenn er ihn irgendwann einmal bemerkt hätte, wäre das wohl kaum rechtzeitig geschehen!"
"Das mag stimmen, ja.."
"Nun, wie habe ich also dieses Dilemma gelöst? Ich habe mir ganz einfach geschworen, dem nächsten Verkäufer einer Obdachlosenzeitung - die kosten ja genau 2 Euro - eine solche abzukaufen! Ich dachte mir, bevor das Geld irgendjemand nimmt und irgendwas damit macht, ist das die beste Lösung!"
"Da bin ich geneigt, dir zuzustimmen.." gab ich zu.
"Gut. Also, ich bin dann in den Rathauspark gegangen, habe mich dort auf eine Bank gesetzt und etwas gelesen. Es war ein wunderschöner Sommertag und ich bin da gesessen und habe das sehr genossen!"
"Schön!"
"Und dann, plötzlich, aus heiterem Himmel, taucht mitten im Rathauspark ein Obdachlosenzeitungsverkäufer aus, mit einem Ausweis sogar! Er sieht mich, geht auf mich zu und meint überschwänglich, ich wolle doch sicher ein Exemplar erwerben.."
Da hielt Herr W. kurz inne und runzelte bedeutungsvoll die Stirn.
"Und, da habe ich sie ihm natürlich gleich abgekauft. Und er hat mir dann auch noch einen Witz erzählt, der sogar ganz gut war!"
"Ende gut, alles gut.."
"Ja, und was habe ich jetzt daraus gelernt?"
"Ich würde sagen, dass Recht nicht immer gleichbedeutend ist mit Moral" gab ich zur Antwort.
"Hmja" meinte Herr W., "und das kommt von dir als Jurist, hm?"

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