Donnerstag, 8. Dezember 2011

Zivile Tugenden

Winter 1783. Die amerikanischen Sezessionisten haben den Unabhängigkeitskrieg gegen den englischen König für sich entschieden. In den Streitkräften herrscht aber großer Unmut, da seit längerem kein Sold mehr bezahlt wurde und sich der Kongress anschickt, gemachte Pensionszusagen wieder zurück zu ziehen, weil er von den Staaten keine ausreichenden finanziellen Mittel erhält. Von einem Marsch auf den in Annapolis, Maryland, versammelten Kongress ist die Rede, das Gespenst eines Militärputsches geht um. Da tritt George Washington auf, der hoch angesehene Oberfehlshaber der Armee. Er fordert seine Offiziere zur Geduld auf und appelliert an sie, fest zu den republikanischen Prinzipien zu stehen, für die sie doch diesen entbehrungsreichen Krieg geführt hätten. Als die Kunde von Washingtons "Newburgh Address" um die Welt geht, ruft das Verhalten von Washington Erstaunen und Bewunderung hervor. Ein de-facto-Machthaber, der seine Macht freiwillig wieder abgeben möchte, der der Versuchung widersteht, sich selbst als Militärherrscher über eine neue Nation zu etablieren. Die aristokratische Elite des ausgehenden 18. Jahrhunderts kann so viel Prinzipientreue und Tugendhaftigkeit kaum fassen. Sogar der alte Feind, Englands König Georg III., bezeichnet ihn in der Folge als "größte Persönlichkeit unseres Zeitalters".

Winter 2011. Der Senat der Vereinigten Staaten von Amerika verabschiedet die National Defense Authorization Bill. Dieses Gesetz gibt den Streitkräften des Landes die explizite Erlaubnis, jeden und jede, den oder die sie einer Unterstützung von terroristischen Aktivitäten gegen die USA verdächtigen, zu verschleppen, ohne Anklage und Verfahren so lange einzusperren, wie es ihnen beliebt bzw. nötigenfalls auch zu töten. Und zwar überall auf der Welt. Egal, ob in Washington vor dem Lincoln-Denkmal, am Wiener Christkindlmarkt oder in Afghanistan. Dieses Gesetz erklärt den gesamten Planeten zum Schauplatz eines Krieges, in dem nahezu alles erlaubt ist. Schwammige Formulierungen, wie wir sie auch aus der europäischen Anti-Terrorismus-Gesetzgebung kennen, sorgen dafür, dass die US-Armee ihren "Krieg gegen den Terrorismus" praktisch gegen jeden, ohne jedweden Rechtfertigungsbedarf und ohne jegliche richterliche Kontrolle führen darf! Dieses Gesetz ist nicht mehr und nicht weniger als die theoretische Fundierung einer Militärdiktatur. Und wir machen uns Sorgen über Ägypten.

Die National Defense Authorization Bill 2012, eigentlich das Budgetgesetz für den Militäretat, ist aber noch nicht in Kraft. Es muss noch durch das Repräsentantenhaus und landet dann am Schreibtisch des 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, des Oberbefehlshabers der amerikanischen Streitkräfte, Barack Obama. Wird er innehalten und sich seiner alten liberalen Ideale entsinnen, die er im Wahlkampf noch vertreten hat? Seiner Versprechungen gedenken, er werde Guantanamo schließen und den Anti-Terror-Kampf auf eine menschenrechtliche Grundlage stellen? Wird ihm vielleicht kurz sein allererster Amtsvorgänger vor Augen stehen, George Washington, wie dieser, noch General und nicht Präsident, in Newburgh, die Freiheit gegen die Macht verteidigt? Zu hoffen wäre es.

Wird er ein Veto einlegen?

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