Dienstag, 8. Mai 2012

Lektürismus - Reisen durch die Welt des Bücherregals # 3: Thomas Pynchon - Inherent Vice



Inherent Vice 
von Thomas Pynchon, Jonathan Cape - Random House, 2009, 369 S.


Thomas Pynchon zu lesen, gilt als Herausforderung. Selbst Muttersprachler meinen, es brauche ein Wörterbuch und diverse andere Nachschlagewerke, um bei den Werken des ständigen Literaturnobelpreis-Anwärters den Durchblick zu behalten. Dem Verlauf der Handlung exakt zu folgen, könne man sowieso vergessen, besser man lehne sich zurück und genieße einfach die Fahrt. Wer schließlich meine, er könne all die verrätselten Bezüge, Anspielungen und Hommagen quer durch die gesamte Kulturgeschichte verstehen, leide sowieso an hoffnungsloser Hybris.

"Inherent Vice" ist, vor diesem Hintergrund betrachtet, halb so wild und folglich für den geneigten Pynchon-Einsteiger gut geeignet. Sicherlich, hier laufen zunächst einige Handlungsstränge quer durcheinander, verschwimmen an ihren Rändern auf einigermaßen assoziativ-nebulöse Weise. Eine Vielzahl von Charakteren taucht auf und wieder ab, Geschehnisse verschwinden hinter Nebelwänden psychedelischer Rauch- und Rauschprodukte. Auch der Slang, der vornehmlich gesprochen wird, das Englisch kalifornischer Hippies der ganz frühen Siebziger Jahre, liegt einem - sofern man "Inherent Vice" denn in der Originalsprache zu sich nimmt (und etwas anderes sollte man, glaube ich, wirklich nicht tun) - naturgemäß nicht immer ganz nahe.

Aber, wie gesagt, es ist alles halb so wild. "Inherent Vice" ist im Kern eine gar nicht so unkonventionelle Detektivgeschichte. Larry "Doc" Sportello heißt die Hauptfigur. Es ist 1970 und er ist Privatermittler mit Wohnsitz Gordita Beach (einem fiktiven Zwilling von Manhattan Beach), verehrt John Garfield, eine tragisch-legendäre Gestalt der Hollywood-Schauspielgeschichte und verlässt das Haus nie ohne einen Joint in der Tasche. Sein Freundeskreis rekrutiert sich vornehmlich aus den surfenden, kiffenden und für den Weltfrieden meditierenden Freaks, die ihre Hütten dort in die Nähe des Ozeans gesetzt haben, in dem manche von ihnen Lemuria vermuten, das selige, pazifische Pendant von Atlantis. Doc Sportellos Rolle als bezahlter Auftragsermittler fügt sich etwas quer in diese kleine Welt, eine Ambivalenz, die ihm zunehmend zu Bewusstsein kommt, wenn er bei selbigem ist.

Durch die Tür seiner Detektei schieben sich von Beginn an verschiedene Fälle, Rätsel und KlientInnen. Bald kann man erahnen, dass sie alle in irgendeiner Weise zusammen hängen. Thomas Pynchon spinnt ein durchaus kunstvolles Netz, an seinen Fähigkeiten als Erzähler lässt auch "Inherent Vice" keine Zweifel aufkommen. Aber, es wird nie derart verworren, dass der Befund aus dem ersten Absatz zutreffen würde. Das narrative Schwergewicht liegt ohnehin weniger am Handlungsablauf, als auf der pointiert-farbenfrohen und immer wieder komischen Beschreibung einzelner Szenen, Situationen, Orte und - vor allem - Charaktere. Es ist eines dieser Werke, bei denen du das Gefühl hast, dass man aus jeder Nebenfigur heraus eine eigene Geschichte bauen, einen Roman erzählen könnte.

Beziehungsweise einen Film machen. "Inherent Vice" ist Kopfkino, eine schräge Mixtur aus L.A. Noir - Detektivroman und Hippie-Tragikomödie à la "Big Lebowski", abgespielt zur Zeit der Nixon-Präsidentschaft. Ein surreal angehauchtes und doch auf seltsame Weise real und nahe anmutendes Abbild einer nicht so lange (gar nicht?) vergangenen Welt. Pynchon spielt auch mit dem Blick des Heutigen, wenn er etwa das ARPANET, eine Urform des Internet, auftreten und seine Charakter darauf reagieren und darob räsonieren lässt.

Mit "Inherent Vice" hat Thomas Pynchon so etwas wie eine Steilvorlage für einen schrägen Hollywood-Film geliefert. Möglicherweise hat Pynchon - der heute 75 Jahre alt wird (Gratulation!) und dessen Gesicht man nur von vierzig Jahre alten Fotos kennt (daher auch das da) - das schon geahnt, als er den folgenden Trailer [!] für seinen Roman eingesprochen hat:

 

 Ach ja, und nur kurz nachdem mir das erste Mal derlei Gedanken gekommen sind, habe ich das entdeckt.

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