Simo Lagnawi - Moroccan Fusion
2017, best foot music
Eine Qualität, die ich an Musik besonders schätze, nenne ich die Zoom-In/Zoom-Out-Qualität. Ich weiß nicht, ob den Begriff sonst schon jemand verwendet. Falls ja, pardon.
Gemeint ist: Ich kann mich in die Klangwelt hinein fallen lassen, tief vergraben, jeder Verästelung jedem Klangereignis nachgehen und dabei immer wieder neue Dinge, andere Aspekte entdecken. Ich kann die Musik aber auch im Hintergrund laufen lassen, ohne dass es irritiert. Wie eine Klangtapete im besten, im geschmackvollen Sinn.
Zoom-In/Zoom-Out ist meist besonders ausgeprägt bei instrumentaler Musik - wie bestimmten (nicht allen) klassischen Kompositionen, insbesondere aber bei gut gemachter elektronischer Musik. Die menschliche Stimme hingegen, die steht dieser spezifischen Janusköpfigkeit - genauer gesagt: dem Zoom-Out - oft eher im Wege. Zu stark ist ihre Signalwirkung, ihr Übertragen von Emotionen, ihr Wirklichkeitsbezug.
Simo Lagnawi lebt in London und ist ein Gnawa-Musiker. Die Gnawa sind die Nachfahren der einst nach Marokko verschleppten westafrikanischen Sklaven. Und so heißt auch ihre Musik. Es ist bemerkenswert, wie man im nordafrikanisch-vorderasiatischen Raum immer wieder auf solche Musikkulturen stößt (zB auch jener der Bandari im Süden des Iran). Eine weniger beachtete historische Parallellachse zu den rituellen Gesängen und den Plantation Songs der nach Amerika verschleppten Afrikanerinnen und Afrikanern.
Gnawa ist in ihrem Ursprung rituelle Musik. Eine Anrufung von Geistern und Heiligen. Ein Ritual der Heilung, ein Nachvollziehen der Schöpfung und ein Sich-dazu-in-Beziehung-setzen. Die Motive und Phrasen wiederholen sich in langen Reihen, ein Trance-artiger Zustand wird angestrebt. Die Führung hat die afrikanische Kastenhalslaute Gimbri, andere Lauten sorgen für dunklere Farben, dazu wird intensiv getrommelt und werden Kastagnetten geschlagen.
"Moroccan Fusion" ist im Rahmen des Projekts best foot music entstanden, bei dem Musik von Menschen aufgezeichnet wird, die in das UK migriert sind. Es sind Liveaufnahmen, die an einer Schule in Brighton aufgenommen wurden. Die Stimmen der Kinder sind immer wieder im Hintergrund zu hören. Der Großteil der Musik kommt aber ohne menschliche Stimme aus. Simo Lagnawis Zugang zum Gnawa ist ein offener, hier nimmt er Musiker aus Frankreich, Marokko, England und Burkina Faso mit. Sie reichern diesen wunderbar musikalischen und doch irgendwie unbändigen Jam mit ihren jeweiligen Akzenten aus Blues, Afrobeat, Reggae an.
Zu dieser Musik kann man alles machen: Tanzen, Sich-Unterhalten, Arbeiten, Denken, Sich-in-Bezug-zur-Welt-setzen, die Melodien in sich aufnehmen. Die Bewusstseinsebenen wechseln. Hinein und wieder hinaus zoomen.
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