Dienstag, 1. Dezember 2009

Lektürismus - Reisen durch die Welt des Bücherregals # 2


Lost City Radio
von Daniel Alarcón, Wagenbach, 2008, 320 S. (Übersetzung: Friederike Meltendorf)

Was ist Geschichte? Sind es die großen Taten und kühnen Handlungen, die entscheiden, wohin die Reise geht, wie es uns die historischen Wälzer zuweilen weismachen wollen? Oder sind es nicht vielmehr die vielen kleinen Impulse, die zusammen, zunächst ganz und gar unmerklich, dem menschlichen Leben eine Richtung verleihen, die vielen kleinen Taten, die ineinander greifen und zusammen zu einem großen Bild wachsen?

Daniel Alarcón hat ein Buch über einige Jahre der Geschichte eines lateinamerikanischen Landes geschrieben. Dieses Land hat keinen Namen, es befindet sich in einem erstarrten Zustand nach einem verlustreichen Bürgerkrieg. Es wurde durch eine repressive, graue Regierung seiner historischen Identität beraubt, die alten Namen der Städte und Dörfer sind durch Zahlen ersetzt worden. Viele Menschen sind entwurzelt, über das Land verstreut. Eine Frau namens Norma moderiert eine Radiosendung, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Menschen wieder zusammen zubringen. Sie ist eine einsame Ruferin in einer mutlosen Gesellschaft. Gleichzeitig ist "Lost City Radio" ein Quotenbringer, man schreckt auch vor manipulativen Methoden nicht zurück, um der Sendung Wirkung zu verschaffen. Aber die Stimme von Norma, die Stimme die landauf, landab jeder kennt, ist ein Symbol der Hoffnung - wenn auch einer Hoffnung, die nicht konkret ist, nicht sein darf, die im Diffusen bleibt.

Rund um Norma entspinnt Alarcón sein meisterliches Panorama dieses sonderbaren Landes. Der Autor lebt in der Vereinigten Staaten und schreibt auf Englisch, ist aber ein gebürtiger Peruaner. Es erscheint nahe liegend, dass hier Peru Pate gestanden hat, aber es könnte auch irgend ein anderes Land in Lateinamerika gemeint sein, das ist letztlich auch gar nicht von Bedeutung.

"Lost City Radio" ist keine chronologische Geschichtsstunde, nicht einmal eine lineare Erzählung.
Der Autor bewegt sich gewandt zwischen den zeitlichen Ebenen, breitet sie neben einander auf und schiebt sie dann, begleitet vom Leser, kunstvoll ineinander, sodass am Ende eine stimmiges Ganzes entsteht. Das Bild, das am Ende dasteht, ist dabei womöglich gar nicht so überraschend, aber der Weg dorthin ist ungemein spannend und reichhaltig. "Lost City Radio" gleicht einem Puzzle, das man in vielen Stunden zufriedener und doch spannungsvoller Gelassenheit ineinander fügt. Und jedes Mal, wenn wieder Steine zusammen passen, entdeckt man neue Details, neue Feinheiten.

Eine überschaubare Zahl von Charakteren bevölkert dieses Buch. Sie scheinen oft wie bloße Nebenfiguren im Strom der Geschichte, die vom Bürgerkrieg in die Repression führt. Doch Alarcón gelingt es in seiner ungemein feinfühligen, gleichzeitig vielsagenden wie ökonomischen Erzählweise, aus den Schicksalen dieser Menschen so etwas wie die Seele ihres Landes und ihre Entwicklung heraus zu destillieren, eine Seele, die in ihren wesentlichen Bestandteilen universelle Gültigkeit hat. So kann man schließlich im Sendebereich des "Lost City Radio" nach dem Bürgerkrieg auch das Spiegelbild einer (post-)modernen Gesellschaft voller verlorener Individuen sehen, die rat- und mutlos nach den historischen Kämpfen der jüngeren Vergangenheit dahintreibt und nicht so recht weiß, wo sie jetzt eigentlich hin will.

Oder man genießt einfach die handwerkliche Kunst des Autors, seine Geschichte zusammenzufügen und so nebenbei die Historie eines Landes zu erzählen. Ohne große Gesten und Erklärungen, einfach aus der jeweiligen persönlichen Geschichte seiner Charaktere, mit ihren kleinen, zuweilen zufälligen, Impulsen heraus. In jedem Fall ist dieses Buch eine absolute Empfehlung.

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