Die Kriegsverbrecherprozesse von Nürnberg und Tokio waren Meilensteine in der Geschichte der Justiz und der Ahndung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die treibende Kraft hinter diesen Prozessen waren die Vereinigten Staaten von Amerika, der große Sieger an beiden Fronten des Zweiten Weltkriegs. Der Entwurf einer neuen Welt, der Vereinte Nationen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und eben jene Verantwortlichkeit für Verbrechen gegen die Humanität umfasste, ging maßgeblich von dieser neuen Weltmacht aus. Wie bereits gut 200 Jahre zuvor, spielten die Nordamerikaner wieder eine Schlüsselrolle in dem Versuch, dem Zusammenleben der Menschen neue Regeln zu geben, die die Würde und die Rechte des Individuums schützen und ein kooperatives Zusammenwirken herstellen sollten.
Wie schon 200 Jahre zuvor blieb der Entwurf bis zu einem gewissen Grad hehres Ideal, dem in der konkreten Wirklichkeit viel Schaden angetan wurde. Im Inneren war die Unterdrückung der Minderheiten noch immer nicht abgeschlossen. Und nach außen hin verhedderten sich die USA in einem erbitterten Ringen mit den Diktaturen des Kommunismus, in dem von beiden Seiten unzählige Untaten verübt und ganze Völker geopfert wurden wie Bauern auf einem Schachbrett. Der so genannte "Kalte Krieg" war nur für die, die ihn am Kochen hielten ,"kalt", für Millionen Menschen in der so genannten "Dritten Welt" war er bittere Realität und er kostete Millionen Menschenleben.
Die Umwälzungen der neuen "amerikanischen Ära" bedeuteten aber auch, dass in ordentlichen und weitestgehend fairen Gerichtsprozessen über die großen Verbrechen der jüngeren Geschichte Recht gesprochen wurde. Auch wenn man die hier teilweise zur Anwendung gebrachte Todesstrafe schon aus grundsätzlichen Erwägungen ablehnen muss und gewisse Züge einer "Siegerjustiz" (vor allem in der Auswahl der Täter, natürlich) nicht hinwegzuleugnen sind, so ist doch festzuhalten, dass hier ein neuer Weg eingeschlagen wurde, der zu einer begrüssenswerten moralischen und rechtlichen Neuorientierung führte.
Juristisch gesehen war natürlich einerseits vor allem beachtlich, dass hier Täter zur Rechenschaft gezogen wurden, die "nur ihre Pflicht getan", "nur Befehle befolgt" haben; weiters, dass es politisch relevante Personen traf; und schließlich, dass hier nicht nach streng positivrechtlichen Kriterien geurteilt wurde (aus der Sicht der nazideutschen Rechtsordnung waren die im Dienste der Ideologie und des "Führerwillens" begangenen Gräueltaten schließlich legal), sondern universelle Grundsätze zur Anwendung kamen - wie sie etwa in den Menschenrechten ihren Niederschlag gefunden haben. Mit einem Schlag war damit den schwersten vorstellbaren Verbrechen, wie dem Völkermord, der massenweisen Folterung und Deportierung von Menschen oder dem ungerechtfertigten Angriffskrieg der Nimbus der Straflosigkeit entzogen. Wer in Hinkunft solche Taten begehen würde, konnte zumindest nicht mehr ganz sicher sein, dass sie ungesühnt blieben.
Im Jahr 2009 scheint es zunächst so, als hätten diese Grundsätze weiteren Auftrieb erhalten. In Belgien und Spanien etwa gilt das Prinzip der universellen Rechtsprechung. Wer sein Volk irgendwo auf der Welt schindet, muss dort mit Strafverfolgung rechnen. Gleichzeitig wurde mit dem Internationalen Strafgerichtshof eine neue Instanz geschaffen, die zumindest den grundsätzlichen Anspruch erhebt, schwerste Verbrechen zu ahnden, egal wo und von wem sie begangen werden.
Doch leider haben sich ausgerechnet die Vereinigten Staaten von dieser Entwicklung abgekoppelt. Das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes haben sie nicht ratifiziert. Und nun geschieht erneut Ungeheuerliches. Der Präsident, Barack Obama, und der Justizminister, Eric Holder, erklären öffentlich, dass sie eine Strafverfolgung jener amerikanischen Geheimdienst- und Militärangehörigen, die in Guantanamo ( und wohl auch anderswo) Menschen gefoltert haben, nicht zulassen werden. Das ist nun nicht deshalb skandalös, weil es, wie manche vielleicht meinen, einen politischer Übergriff auf die Justiz darstellen würde - die Anklagebehörden sind nun einmal der exekutiven Gewalt und damit dem politischen Machtzenrum zugeordnet. Es ist schlichtweg ein Verstoß gegen Recht und Gesetz und gegen die Verfassung der Vereinigten Staaten, die jede unmenschliche und erniedrigende Behandlung von Menschen ächtet. Und das zum Schaden der Folteropfer. Ein Präsident, der sich so verhält, der Verdächtige - von jenen, die die Folterbefehle gegeben bis zu jenen, die sie im Wissen um ihre kriminelle Natur ausgeführt haben - der Strafjustiz entzieht, begeht nichts anderes als Amtsmissbrauch.
Es entsteht leider immer mehr der Eindruck, dass Obamas Guantanamo-Politik eine ordentliche Mogelpackung ist. Das Lager wird zwar nun (nachdem alle Verhöre längst abgeschlossen sind) geschlossen, doch jene Häftlinge, deren Schuld sich auch durch Folter und Demütigungen hindurch nicht hat erweisen lassen, werden jetzt einfach kaltblütig vor die Türe gesetzt. Und ihre Peiniger kommen ungeschoren davon.
Natürlich ist man bei einem derart heiklen Thema sofort mit politischen Rechtfertigungsstrategien zur Hand. Obama lässt verkünden, dass man jene strafrechtlich nicht belangen solle, "die im guten Glauben an den Rat des Justizministeriums handeln". Das freilich kommt uns jetzt irgendwie sehr bekannt vor. Genau, sie haben eben nur ihre Pflicht getan.
Wenn es um die eigenen Folterknechte (von denen man sich gleichzeitig geschickter Weise auch noch politisch distanziert) geht, ist das als Ausrede offensichtlich gut genug. Geschichtsvergessen und in Mißachtung der eigenen Verfassung, der eigenen Werte treibt man also wieder einmal auf dem trübsten aller amerikanischen Gewässer dahin - dem Meer der Doppelmoral. In dieser Hinsicht ist "Change" anscheinend doch noch weit, weit weg.
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