Samstag, 28. Mai 2011

Warum Amnesty?

Wozu gibt es eigentlich Amnesty International und warum soll man sich überhaupt dafür engagieren? Erstaunlicher Weise kann ich mich nicht erinnern, dass man mich das schon einmal gefragt hätte. Und das, obwohl in meinem persönlichen Umfeld bekannt ist, dass ich recht viel (Frei-)Zeit in die Aktivitäten dieses international agierenden Vereines investiere. Auch draußen, am Infostand am Bürgersteig, werden wir eigentlich nur selten gefragt, wer wir sind und wofür wir uns einsetzen.

Amnesty hat einen hohen Bekanntheitsgrad - bei uns in Oberösterreich, aber auch weltweit. Die meisten Menschen, die wir auf der Straße treffen, haben schon von Amnesty gehört und zumindest eine vage Vorstellung davon, womit wir uns beschäftigen. Positiv betrachtet ist das das Ergebnis von nunmehr 50 Jahren unablässiger, intensiver Lobbyingarbeit von ehrenamtlichen wie hauptamtlichen Mitwirkenden. Kritischer betrachtet könnte man aber auch sagen, dass Menschenrechte - also das, wofür Amnesty sich einsetzt - in unseren Breiten für viele zu etwas Selbstverständlichem geworden sind. Es versteht sich sozusagen eh von selbst, dass das Prinzip der Menschenrechte vorherrscht und dass man "dafür" ist. Es ist selbstverständlich, vielleicht auch ein bisschen zu selbstverständlich.

Denn die Geltung der Menschenrechte ist kein naturgegebener Zustand, der schon vor ewigen Zeiten einfach so über uns gekommen ist und nun unablösbar auf unseren Gemeinwesen liegt und in unseren Verfassungen festgeschrieben ist. Historisch gesehen sind die Menschenrechte als Leitfaden, den sich die Staaten der Erde gegeben haben, unglaublich jung. Die erste universelle Menschenrechtsdeklaration, die weltweite Anerkennung gefunden hat, ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen aus 1948. Das ist geschichtlich gesehen nicht viel mehr als ein Atemhauch.

Auch die Staaten des so genannten "Westens" waren etwa noch im 19. Jahrhundert großteils finstere Polizeistaaten, die einem großen Teil ihrer BürgerInnen die politische Mitbestimmung verweigerten, in deren Justizsystemen Brutalität praktiziert wurde, in deren Gefängnisse entsetzliche Zustände herrschten und die in besetzten Gebieten auf der ganzen Welt die Menschenrechte mit Stiefeln traten. Vieles, was wir heute an Staaten wie dem Iran oder China kritisieren, gab es damals auch bei uns. Was im Übrigen danach, im 20. Jahrhundert auf dem Weg in die demokratische Ära in Europa zwischenzeitlich an Schrecknissen, an brachialem Ausbruch staatlicher Gewalt und Unterdrückung noch passieren sollte, kann als bekannt vorausgesetzt werden.

Arroganz ist nicht angebracht. Weder gegenüber denen, die bei der Umsetzung der Menschenrechte noch nicht so weit sind, noch in Bezug auf unsere eigene Situation. Die Menschenrechte als gelebte Praxis sind noch ein junges, verwundbares Pflänzchen. Wir müssen weiter das Bewusstsein der Menschen dafür schärfen, was sie bedeuten und welchen immensen Wert sie haben. Diese Aufgabe wird vermutlich nie enden, auch wenn es in den letzten 60 Jahren ohne Zweifel auch große, bemerkenswerte Fortschritte gegeben hat. So wurde in den USA und in Südafrika die Rassentrennung abgeschafft, junge Demokratien behaupteten sich und neue entstanden, die Todesstrafe verschwand aus den Gesetzbüchern der meisten Staaten, die gleichgeschlechtliche Liebe wurde in vielen Ländern der Erde entkriminalisiert, Anti-Diskriminierungsgesetze wurden erlassen, Kriegsverbrecher landeten vor einem Richter.

Welchen Anteil Amnesty daran hat - und das bringt uns wieder zu unseren Ausgangsfragen zurück - ist natürlich schwer zu bemessen. Fakt ist, das Amnesty heute die größte Menschenrechtsorganisation der Welt ist, eine Organisation, die von Regierungen, Weltanschauungen, Religionen oder Konzernen unabhängig ist und mit dem Anspruch auf höchste Objektivität und Unparteilichkeit alle wesentlichen Akteure beobachtet und zur Einhaltung der in den internationalen Abkommen verankerten Menschenrechte gemahnt. Dies tut es, das glaube ich aus meiner Innenansicht der letzten Jahre erkennen zu können, aus tiefster Überzeugung und mit höchster Gewissenhaftigkeit und Seriosität, was zuweilen zwangsläufig dazu führt, dass die Botschaft fast schon zu trocken rüberkommt.

Tatsache ist auch, dass Amnesty jedem Erdenbürger die Möglichkeit gibt, etwas zu tun. Teil einer globalen Bewegung für die Menschenrechte zu werden, die sich wie ein Mensch hinter all jene stellt, die von Menschenrechtsverletzungen betroffen sind.

Nicht allen kann damit geholfen werden. Viele bleiben trotz des Einsatzes von Amnesty in ihrem Kerker oder werden hingerichtet. Doch die Quote jener "Fälle", derer Amnesty sich annimmt und die positiv "abgeschlossen" werden, liegt im Bereich 60%-70%, wie ich unlängst aus einer offiziellen Amnesty-Quelle erfahren habe (die ich hoffentlich wieder finde und nachreichen kann). Das ist beachtlich und es kann davon ausgegangen werden, dass der Einsatz von Amnesty einen erheblichen Anteil hat. Dabei geht es, das muss man deutlich sagen, nicht nur um blanke Zahlen. Es geht in jedem einzelnen Fall um ein menschliches Schicksal. Selbst wenn wir in einem Jahr nur in einem einzigen Fall für eine einzelne Person unsere Forderungen verwirklichen würden, würde das für diesen einen Betroffenen immer noch nicht weniger als das Leben, die Freiheit, die persönliche Sicherheit bedeuten!

Amnesty stark zu machen bedeutet aber auch, Generalpräventation zu ermöglichen. Jeder, der weiß, dass seine Aktivitäten beobachtet werden, dass seine (Un-)taten globalen Widerhall finden und er mit einer Flut an Briefen, Protesten, diplomatischen Interventionen rechnen muss, wird eher davor zurück schrecken, sie zu setzen. Kein Mensch, keine Institution setzt sich gerne permanenter Kritik aus (s. auch ein jüngstes Beispiel).

Schließlich gibt es noch einen Aspekt unseres Einsatzes, der sich nie in Zahlen oder Erfolgsmeldungen wird ausdrücken lassen. Um das zu veranschaulichen, erzähle ich gerne eine Geschichte, die eigentlich nur am Rande mit Amnesty zu tun hat.

Ich war Zeuge eines Gerichtsverfahrens. Amnesty-Mitstreiter hatten uns darauf aufmerksam gemacht. In Folge eines großen Drogenfundes in der Villa eines angesehenen Bürgers stand ein Afrikaner vor Gericht, der dafür verantwortlich gemacht wurde, das Suchtgift ins Land gebracht und ohne Wissen des Hauseigentümers dort deponiert zu haben. Der mutmaßliche Haupttäter, ein Landsmann, hatte ihn schwer belastet, bevor er reißaus genommen hatte. Weitere Beweise gab es nicht, aber er war buchstäblich der letzte, den man für dieses Verbrechen verantwortlich machen konnte. Das Verfahren wurde nach unserem Empfinden unfair geführt, Richter und Staatsanwalt machten sich zuweilen gemeinsam über den Angeklagten lustig. Wir waren dabei, weil wir eine öffentliche Kulisse bieten wollten, um solche Übergriffe zu verhindern. Es war keine offizielle Amnesty-Mission, es war privat.

Mit uns im Gerichtssaal war ein schmächtiges junges Bürschchen, ein Afrikaner. Nachdem das Urteil verkündet und der Angeklagte zu einer an Jahren zweistelligen Haftstrafe verurteilt worden war, weinte er bitterlich. Als wir über die Stiegen des Gerichtsgebäudes ins Freie hinaus traten, drehte er sich um, sah mir in die Augen, gab mir die Hand und sagte mit Tränen erstickter Stimme "Thank You!" Ich war kurz verdutzt. Wir hatten seinem Freund und ihm doch nicht wirklich helfen können?! Aber gleich darauf verstand ich.

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